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Arbeitsgericht Berlin zu „wildem Streik“
Sirkka Schrader und Laura Redmer • Mai 20, 2022

Außerordentliche Kündigung wegen Teilnahme an "wildem Streik" unwirksam


Das Arbeitsgericht Berlin hat am 07.03.2022 (Az. 19 Ca 10127/21) entschieden, dass eine außerordentliche Kündigung, die wegen der Teilnahme an einem „wilden Streik“, d.h. einem Streik, zu dem zuvor keine Gewerkschaft aufgerufen hat, unwirksam ist. Das Arbeitsgericht begründet seine Entscheidung u.a. mit dem in Deutschland nicht kodifiziertem Streikrecht.


Der Fall

Der aus Frankreich stammende Kläger ist Fahrradauslieferungsfahrer eines Berliner Lieferdienstes für Lebensmittel und kandidierte für die eingeleitete Betriebsratswahl. Wegen ausstehender Lohnzahlungen fanden mehrere Versammlungen von Arbeitnehmer*innen statt, in denen über die Einleitung eines Streiks diskutiert wurde. An diesen Versammlungen nahm auch der Kläger teil und leitete diese teilweise auch. Schließlich legten einige Arbeitnehmer*innen, darunter auch der Kläger, die Arbeit aus Protest gegen die ausstehenden Lohnzahlungen nieder.


Die Arbeitgeberin hatte darauf hingewiesen, dass sie dieses Vorgehen für illegal halte und sprach dem Kläger gegenüber daraufhin eine außerordentliche Kündigung aus. Sie war der Auffassung, dass der Aufruf zu einem „wilden Streik“ und die „Leitungsfunktion“ des Arbeitnehmers bei den Versammlungen die außerordentliche Kündigung rechtfertige.


Der Kläger wandte dagegen ein, dass er mit den Kolleg*innen nur über die Rechtslage diskutiert habe. In seinem Heimatland sei das Streikrecht deutlich liberaler ausgestaltet und ihm sei mehrfach bestätigt worden, dass ein Streik rechtens wäre. Aus diesem Grund sei die außerordentliche Kündigung nicht gerechtfertigt.


Die Entscheidung des Arbeitsgerichts

Das Arbeitsgericht Berlin gab dem Kläger Recht. Die außerordentliche Kündigung sei unwirksam. Auf einen besonderen Kündigungsschutz des Klägers als Wahlbewerber komme es nicht an, da schon kein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung gegeben sei. Die hohen Anforderungen, die an eine außerordentliche Kündigung zu stellen sind, seien nicht erfüllt:


Klar sei nur, dass unter den Arbeitnehmer*innen eine große Unzufriedenheit über unregelmäßige Bezahlung durch die Arbeitgeberin herrschte und sie daraufhin vorübergehend nicht gearbeitet hätten. Daraus ergebe sich aber nicht automatisch, dass es sich um einen unrechtmäßigen Streik gehandelt habe. Es könne sich auch um die gemeinsame Ausübung eines Zurückbehaltungsrechts gehandelt haben.


Darüber hinaus sei aber auch zu beachten, dass das Streikrecht in Deutschland nicht kodifiziert sei und es keine gesetzliche Grundlage dafür gebe, dass ein Streik zwingend gewerkschaftlich organisiert sein müsse. Es sei daher keineswegs gesichertes Recht, dass ein Aufruf zu einem „wilden Streik“ einen Verstoß gegen arbeitsvertragliche Pflichten darstelle. Aufgrund der unübersichtlichen Rechtslage sei es dem Kläger nicht vorzuwerfen, dass er sein Verhalten für rechtmäßig gehalten hatte. Eine Abmahnung, die sich auf etwaige Streikaufrufe des Arbeitnehmers bezogen hätte, habe der Kläger auch nie erhalten.


Es liege daher kein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung vor und die Kündigung sei damit unwirksam.


Fazit

Der Entscheidung des Arbeitsgerichts Berlin ist zu folgen: Die rechtlichen Hürden für eine außerordentliche Kündigung sind zu Recht hoch. Das Streikrecht ist in Deutschland nicht gesetzlich geregelt. Aus diesem Grund kann es keinesfalls als gesichert gelten, dass „wilde Streiks“ grundsätzlich unzulässig sind.


Das Arbeitsgericht Berlin hält die außerordentliche Kündigung folgerichtig für unwirksam.


Interessant an der Entscheidung sind die Ausführungen zum Streikrecht: Seit den 50er Jahren verbietet die bisherige Rechtsprechung des BAG den Arbeitskampf, der ohne Aufruf der Gewerkschaft geführt wird und illegalisiert diesen zum „wilden Streik“. Diese Rechtsprechung basiert weder auf einer gesetzlichen Grundlage noch ist sie grundrechtskonform. In vielen Branchen sind die gewerkschaftlichen Bindungen trotz alarmierend prekärer Arbeitsbedingungen leider schwach ausgestaltet. Das Festhalten an der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts beschneidet die Grundrechtsausübung der gemeinsam handelnde Arbeitnehmer*innen. Es wäre daher zu begrüßen, wenn sich die Auffassung des Arbeitsgerichts in der Rechtsprechung durchsetzt.


UPDATE vom 09.05.2023:

Das LAG Berlin-Brandenburg hat am 25.04.2023 entschieden, dass die auf Grundlage der Teilnahme an einem "wilden" Streik erklärten fristlosen Kündigungen wirksam sind. Das LAG hat die Beteiligung an den „wilden“ Streiks als erhebliche arbeitsrechtliche Pflichtverletzungen bewertet und ist davon ausgegangen, dass die nicht gewerkschaftlich organisierte Protestaktion nicht als zulässige Ausübung des Streikrechts i.S.d. Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG zu beurteilen sei. Zur Pressemitteilung geht es hier.

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