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BAG: Arbeitgeber gesetzlich zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet
Laura Redmer • Sept. 16, 2022

Aufsehenerregende Entscheidung aus Erfurt


Das Bundesarbeitsgericht hat am 13.09.2022 (Az. 1 ABR 22/21) in einem aufsehenerregenden Beschluss entschieden, dass Arbeitgeber nach unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet sind, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmer*innen geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann. Ein erzwingbares Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung eines (elektronischen) Arbeitszeiterfassungssystems im Betrieb über die Einigungsstelle bestehe aufgrund der bereits bestehenden gesetzlichen Pflicht nicht (siehe Eingangssatz von § 87 Abs. 1 BetrVG).

 

Der Fall

In einem Gemeinschaftsbetrieb vollstationärer Wohneinrichtungen verhandelten die Arbeitgeberinnen und der Betriebsrat über eine Betriebsvereinbarung zur Einführung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung. Eine Einigung der Betriebsparteien hierüber kam nicht zustande und die Arbeitgeberinnen ließen das Projekt fallen. Der Betriebsrat beantragte daraufhin beim Arbeitsgericht die Einsetzung einer Einigungsstelle zum Regelungsgegenstand „Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Einführung und Anwendung einer elektronischen Zeiterfassung“. Aufgrund der offenen Rechtsfrage, ob der Betriebsrat im Rahmen von § 87 Abs. Nr. 6 BetrVG ein Initiativrecht habe, setzte die errichtete Einigungsstelle die Verhandlungen aus und ließ diese Frage durch die Betriebsparteien im Wege des gerichtlichen Beschlussverfahrens prüfen.

 

Verlauf des Verfahrens

Aus dem Verlauf des Verfahrens lässt sich ableiten, wie kontrovers die Frage, ob dem Betriebsrat auch im Rahmen von § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ein Initiativrecht zukommt, unter Jurist*innen gesehen wird:


In erster Instanz gab das Arbeitsgericht den Arbeitgeberinnen Recht und berief sich auf eine ältere Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, wonach das Mitbestimmungsrecht bei technischen Überwachungseinrichtungen ausschließlich als Abwehrrecht des Betriebsrats zum Schutz der Arbeitnehmer*innen ausgestaltet sei und demnach der Betriebsrat technische Einrichtungen zur Überwachung der Arbeitnehmer*innen nicht erzwingen könne (BAG, Beschluss vom 28.11.1989 – 1 ABR 97/88).


In zweiter Instanz gab das LAG Hamm dem Antrag des Betriebsrats statt, da es nach historischer Auslegung keine Einschränkung des Initiativrechts bei § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG sah. Weitere Landesarbeitsgerichte schlossen sich der Auffassung des LAG Hamm in der Folge an und betonten den Schutz- und Gesundheitsaspekt der Arbeitszeiterfassung für die Arbeitnehmer*innen (LAG Düsseldorf, Beschluss vom 24.8.2021 – 3 TaBV 29/21; LAG München, Beschluss vom 10.08.2021 – 3 TaBV 31/21).


Entscheidung des BAG

Die gegen die Entscheidung des LAG Hamm gerichtete Rechtsbeschwerde der Arbeitgeberinnen hatte vor dem Bundesarbeitsgericht Erfolg. Der Betriebsrat hat nach § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG in sozialen Angelegenheiten nur mitzubestimmen, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht. Diese gesetzliche Regelung, die einem Initiativrecht des Betriebsrats entgegensteht, sieht das BAG in § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG. Nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG hat der Arbeitgeber zur Sicherung des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer*innen für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen. Bei unionsrechtskonformer Auslegung der Regelung sei der Arbeitgeber aus dieser Regelung gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer*innen zu erfassen. Dies schließe ein – mithilfe der Einigungsstelle durchsetzbares – Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung eines (elektronischen) Systems der Arbeitszeiterfassung aus § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG aus.

 

Fazit und Praxistipp

Auf den ersten Blick mag die Entscheidung des BAG wie eine Niederlage für den Betriebsrat aussehen, wurde diesem doch das begehrte Initiativrecht abgesprochen.


Bei näherer Betrachtung stellt sich die Entscheidung allerdings als großer Erfolg heraus: Das BAG lehnte das Initiativrecht allein aufgrund der relativ simplen Feststellung ab, dass Arbeitgeber gesetzlich schon längst verpflichtet seien, die Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer*innen zu erfassen. Diese Frage war seit der EuGH-Entscheidung vom 14.05.2019 (Az. C-55/18) höchst umstritten. Viele gingen davon aus, dass erst der Gesetzgeber tätig werden und die Arbeitgeber ausdrücklich zur Zeiterfassung verpflichten müsse. Dieser Auffassung hat das BAG nun eine deutliche Absage erteilt und festgestellt, dass eine entsprechende gesetzliche Pflicht bereits besteht – und ein Tätigwerden des Gesetzgebers somit nicht mehr erforderlich ist.


Das Revolutionäre an der Entscheidung ist noch nicht einmal diese Feststellung selbst, sondern der rechtliche Weg dorthin: So liest das BAG die Pflicht zur Zeiterfassung aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG, der den Arbeitgeber dazu verpflichtet, für eine geeignete Arbeitsschutzorganisation zu sorgen. Aus dieser Regelung, die das BAG selbst noch 2014 als "Prototyp einer allgemein gehaltenen Rahmenvorschrift" bezeichnet und daher ein auf die Ausgestaltung bezogenes  Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats angenommen hatte (vgl. BAG, Beschluss vom 18.03.2014 - 1 ABR 73/12), liest es nun die sehr konkrete Pflicht des Arbeitgebers heraus, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer*innen zu erfassen. Diese Auslegung ist vor dem Hintergrund der bisherigen Rechtsprechung des BAG sehr überraschend.


Die Verpflichtungen aus dem Arbeitsschutzgesetz treffen alle Arbeitgeber*innen, unabhängig von der Größe des Betriebs, der Branche oder ob im Betrieb ein Betriebsrat gewählt ist. Das Thema Arbeitszeiterfassung müsste daher in allen Betrieben, in denen noch kein System zur Arbeitszeiterfassung existiert, aufkommen.


Für Betriebsräte besteht in diesem Zusammenhang viel zu tun: Das BAG hat nur ein Initiativrecht des Betriebsrats abgelehnt. Die Ausgestaltung des jeweiligen Systems zur Arbeitszeiterfassung dürfte aber nach wie vor mitbestimmungspflichtig sein - sei es nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG bei einer elektronischen Erfassung oder nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG bei einer anderen Art der Erfassung der Arbeitszeiten. Auch auf Mitbestimmungsrechte im Bereich des § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG dürften sich Betriebsräte nunmehr eindeutig berufen können - hat das BAG doch selbst die eindeutige Verknüpfung von Arbeits- und Gesundheitsschutz und Arbeitszeiterfassung hergestellt.



Die Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts ist hier abrufbar.

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